Dienstag, 10. März 2015

Mädels mit Musketen?

Gewalt, Weiblichkeit und Sexualität in der Bundesrepublik der 1970er Jahre
Queer Lecture - die Besprechung

"An jeder Straßenecke könnte praktisch ein Mannweib mit Schlagring, Lederkleidung und rauher Stimme auf ihn warten". Mit diesem Zitat aus der Lesbenzeitschrift ukz eröffnete Clare Bielby ihren Vortrag.

Es stammt aus einem Artikel von 1976, der sich nach dem Gefängnisausbruch von Inge Viett und anderen RAF-Mitgliedern damit auseinandersetzte, wie die Medien politische Gewalt und lesbisches Selbstbewusstsein miteinander verknüpften.

Zunächst verwies Bielby darauf, dass die Kriminologie seit dem 19. Jahrhundert sexuell deviante Frauen generell als gewalttätig desavouierte. Diese unselige Tradition prägte auch die Darstellung von weiblichen RAF-Mitgliedern in der bundesdeutschen Presse.
Lesben als Gewaltverbrecherinnen

Man hielt die Terroristinnen für besonders hinterhältig und gefährlich, weil sie ihre Gewaltbereitschaft hinter der Maske einer Weiblichkeit verbargen, der man sozusagen naturgemäß Friedfertigkeit unterstellte.

Clare Bielby
Auf besonders krasse Weise verknüpfte die BILD Lesben und Gewaltverbrechen in ihrer Berichterstattung über den Prozess gegen Judy Andersen und Marion Ihns, die – so der Vorwurf – den Ehemann der Letzeren hatten ermorden lassen, damit er dem Glück des Frauenpaares nicht im Wege stehe.

Dieses Verfahren trug maßgeblich dazu bei, dass die Frauen- und Lesbenbewegung in den 1970er Jahren eine Gegenöffentlichkeit schuf und eine Debatte über die alltägliche Gewalt auslöste, unter der Frauen im Patriarchat zu leiden hatten. Dabei rückte einerseits die stereotype Figur der schutzbedürftigen Frau als Opfer ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig formierte sich andererseits, so Bielby, ein lesbisch-feministischer Gegenentwurf von Frauen, die sich notfalls auch handgreiflich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr setzten.

Wie zeigbar ist weibliche Gewalt

Dieses Bild einer gewaltbereiten Weiblichkeit geriet mitunter jedoch in eine ambivalente Nähe zu heterosexuellen Männerphantasien von „chicks with guns“, die die sogenannte Sexwelle ins Licht der Öffentlichkeit gespült hatte.

Im breiten Gewaltdiskurs der 1970er Jahre wurden Weiblichkeit und Gewalt also auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Diese Verflechtungen, so Bielbys Hauptthese, machten lesbische Frauen zugleich sicht- und angreifbarer, sie zeitigten sowohl emanzipative als auch diskriminierende Effekte.

Dementsprechend ging es in der anschließenden Diskussion im vollbesetzten SonntagsClub vor allem um die Frage, wie zeigbar weibliche Gewalt heutzutage ist und was das für die Ausgrenzung, aber auch für die Selbstermächtigung nicht-heteronormativ lebender Frauen bedeutet.

Sollten sie sich gewalttätige Handlungsoptionen offen halten und die emanzipativen Möglichkeiten eines „Frauen, wehrt Euch!“ nutzen? Inwiefern laufen sie dabei Gefahr, sich in heterosexistischen Stereotypen zu verheddern?

War die gewalttätige Lesbe letztlich nur unter den speziellen Bedingungen der 1970er Jahre eine emanzipative Figur, deren Auftreten heutzutage weit weniger Potentiale birgt?
Benno Gammerl